DIE GESCHICHTE HINTER DER GESCHICHTE

VOM MUT, FAMILIÄRE NÄHE ZU HINTERFRAGEN - UND SICH SELBST ZU WÄHLEN

Birte Brunner

8/1/20252 min lesen

Wer den Kontakt zu den eigenen Eltern abbricht, bekommt selten Verständnis. Stattdessen bekommt er Ratschläge, Forderungen, Urteile.
Als würde Verwandtschaft automatisch Verbundenheit bedeuten. Als könne Blutsverhältnis Liebe garantieren.

„Aber es sind doch deine Eltern.“
„Du hast nur dieses eine Leben.“
„Vergeben ist wichtig.“

Doch kaum jemand fragt:

„Was hat dich dazu gebracht, zu gehen?“

Nicht jede Kindheit ist getragen.
Manche beginnt auf wackeligem Grund:
unzuverlässige Strukturen, emotionale Unsicherheit, unklare Rollen.

In manchen Familien wird Nähe mit Bedingungen versehen. Liebe hängt an Erwartungen.
Zugehörigkeit wird zur Leistung.

Kinder passen sich an.
Sie schweigen, sie lächeln, sie warten.
Sie hoffen, dass jemand merkt, wie sehr sie sich verlieren.

Und oft merkt es niemand.

Wer sich zu lange anpasst,
erlebt irgendwann einen inneren Bruch.
Er ist nicht laut. Kein Drama. Kein Vorwurf.
Nur ein Satz, klar und still: „Ich nicht mehr.“
Nicht aus Wut, sondern aus Erschöpfung.
Nicht aus Trotz, sondern aus Selbsterhaltungstrieb.
Man geht. Man schützt sich. Man beginnt, sich selbst zu retten – weil niemand sonst es tut..

Die Umgebung reagiert oft reflexhaft:

„Aber sie sind doch alt.“
„Du wirst es bereuen.“
„Man hat nur eine Familie.“

Kaum jemand fragt:

„Wie viele Chancen hast du gegeben?“
„Was wurde nie ausgesprochen?“
„Was wurde dir immer wieder genommen?“

Gesellschaftlich ist der Bruch mit den Eltern immer noch ein Tabu. Er verletzt das Idealbild der Familie –
jenes Bild, das lieber an Illusionen festhält
als an der Wahrheit Einzelner.

Es ist leicht, Schuld zuzuweisen und schwer, Zusammenhänge zu sehen – ohne zu relativieren.
Denn oft stehen auch hinter unseren Eltern Geschichten,
die sie selbst nie erzählen konnten.
Erziehungsmuster, die Härte über Nähe stellten.
Generationen, die gelernt haben, Gefühle zu verdrängen statt zu teilen.

Viele dieser Eltern handeln nicht aus Bosheit –
sondern aus Unfähigkeit, anders zu lieben.
Nicht weil sie nicht wollten,
sondern weil sie es nie gelernt haben.
Weil niemand ihnen beibrachte, wie Bindung funktioniert.
Weil ihre eigene Kindheit ein Mangel war,
den sie weitergaben – ungewollt, aber wirksam.

Das zu verstehen, kann helfen.
Aber es macht das Erlebte nicht ungeschehen.
Erklärbarkeit ist keine Entschuldigung.
Empathie ist kein Freibrief für erneuten Schmerz.

Vergebung ist kein Befehl, kein Beweis von Reife und kein Ticket zurück in alte Verhältnisse.

Vergebung kann still geschehen.
Ohne Kontakt.
Ohne Aussprache.
Ohne Versöhnungsszene.

Sie ist ein innerer Prozess,
der nicht die Schuld löscht, sondern die Bindung an das, was wehgetan hat.

Es gibt Eltern, die keine Beziehung halten können.
Die Bindung nicht leben, sondern nur erwarten.
Die Anwesenheit mit Fürsorge verwechseln.
Und Liebe mit Kontrolle.

Kontakt kann bestehen – formal.
Aber ohne Verbindung, ohne echtes Interesse,
ohne gegenseitige Wahl.
Und manchmal ist der mutigste Schritt,
sich aus diesem Kontakt zu lösen.

Nicht um zu bestrafen.
Sondern um zu überleben.
Was bleibt, ist nicht Schuld, nicht Hass, nicht Groll.
Was bleibt, ist Klarheit.
Eine leise, kraftvolle Entscheidung:

„Ich wähle mich.“

Und aus dieser Wahl wächst etwas Neues:
Ein anderes Verständnis von Familie.
Ein anderes Maß für Nähe.
Ein anderes Bild von Liebe.

Fazit: Beziehung ist nicht Pflicht, sondern Entscheidung und Arbeit von beiden Seiten.

Wer geht, hat nicht versagt.
Er hat sich entschieden.
Für sich. Für Ruhe. Für Würde.

Denn Blutsverwandtschaft verpflichtet zu nichts,
wenn sie nicht durch eine Beziehung getragen wird.